Pressestimmen zu „Gourrama“

Glausers «Gourrama» wird zum Klingen gebracht

Tages-Anzeiger vom 17.09.2016

Zürich, Sogar-Theater – Es ist ein wildes Durcheinander der Töne, einige gehen dahin, andere dorthin; ein Miteinander­ oder Zusammenklingen gibt es nicht. Jeder macht, so scheint es, was er will. Dann auf einmal, nach einem schnarrenden Befehl oder lauten Pfiff, ordnen sich die Töne zu einem ansehnlichen Klanggebilde, das sich bereit macht für den Abmarsch. Auch die murrenden oder maulenden Esel, die das Gras mitsamt den daran hängenden Erdbüscheln fressen, fügen sich und bereiten keinen Ärger mehr. Die Musik wird und wirkt nun harmonischer; die verqueren Töne ziehen sich geschlagen zurück und verstummen, aber das hat einen hohen Preis: Anpassung und Unterwerfung. Das Kollektiv übernimmt die Macht über das Individuum.

Wir sind in der Fremdenlegion, im Süden Marokkos, nahe der Wüste, wo es die hin verschlägt, die man in Europa nicht mehr gebrauchen kann, oder jene, die dort wegen schwerer Verbrechen gesucht werden. Es sind harte Schicksale von Menschen, die sich in der Fremde neu erfinden müssen – einer von ihnen hat die Soldaten genau beobachtet und ein grossartiges Buch darüber geschrieben: «Gourrama» von Friedrich Glauser, in den jahren 1928 bis 1930 verfasst.

Nun hat das Glauser-Quintett die wechselnden Stimmungen dieses Buchs, das Peter Bichsel für den besten Schweizer Roman des 20. Jahrhunderts hält, in Klänge übersetzt. Es ist eine eigenartige und eigenwillige Musik, deren Konzept sich nicht sofort erschliesst, sondern peu à peu. Zunehmend hellt sie auf – wie die ernsten Gesichter der barfüssigen Musiker Daniel R. Schneider, Martin Schumacher, Andreas Stahel, Fredi Flükiger und des Rezitators Markus Keller, der in alemannisch gefärbter Aussprache Friedrich Glauser in den kleinen Raum des Sogar-Theaters zaubert. Nach 70 Minuten zeigte sich das Publikum von der Umsetzung angetan: Sie schafft es, ein literarisch-musikalisches Bild derart zu zeichnen, dass die Komplexität (und Verzweiflung) des Textes nicht nivelliert wird.

Anhand verschiedener Figuren wie dem kleinen Schneider, der erkrankt und stärker als die anderen unter der Hitze leidet, wird diese abgelegene, abweisende Welt anschaulich beschrieben. Körper, aber auch Gespräche können die drohende Einsamkeit bekämpfen oder gar überwinden: «Sobald du ein Gespräch führst oder einen Witz machst, so ist das doch wie eine Berührung, die du mit dem anderen tauschst.» Oder an einer anderen Stelle: «Die Wärme des fremden Körpers riss Sprünge in seine Einsamkeit.»

Behutsam nähert sich das Glauser­Quintett dem Roman, um dessen Befindlichkeiten in Töne zu transformieren: mal schrill und isoliert, mal stramm und schnurstracks nach vorn eilend – Klarinetten und Flöten, Klavier und allerlei Perkussion bewegen sich in Arabesken um einen zentralen Text der Schweizer Literatur, der den «Diskurs in der Enge» nicht luxurierend beschwört, sondern aus purer Not. Am Schluss schluckt der Raum den letzten Ton, so wie es die Wüste mit den Legionären tut: «Der hoch beladene Bastsattel des letzten Küchentieres wurde kleiner, die Ebene verschluckte vorsichtig die Kolonne.»

Guido Kalberer


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